Niedere Instinkte

Musiker wie wir, haben in der Regel eine begrenzte Anzahl an natürlichen Grundinstinkten. Da wären die systematische Nahrungsaufnahme, die gelegentliche Vortäuschung des partnerschaftlichen Vermehrungswillens vor dem Schlafen gehen und natürlich Der lebenswichtigste Instinkt: die Beschaffung neuer Hardware. Letzteres ist tief in uns verankert, denn wir können zwar ein paar Tage auf feste Nahrung verzichten, wir können aber nicht an einem Musikgeschäft vorbei gehen, auch wenn in der Fenster-Auslage nur ein paar Noten der Zillertaler Almspitzdudler liegen oder eine fermentierte Mundharmonika aus den 1970er eine biologische und untrennbare Verbindung mit ihrem Preisschild eingegangen ist. 

So erlebt im letzten Kurzurlaub, in dem ich mit meiner Lebens-Nahrungsdistributorin eine kleine Stadt im Hessischen bereiste und wir doch recht gemütlich durch deren Altstadt schlenderten. Ein uriges Musikgeschäft mit längst vergessenen Begleitautomatikkeyboards im Schaufenster unterbrach meine Gedanken an den baldigen Weg zurück zum Parkplatz. Meine Frau lächelte zwischen Mitleid und gönnerhaften Augenverdrehen und zeigte mit ihrer Hand auf die Eingangstür. „Willst Du mal gucken gehen“? Ich nickte und ergänzte: „Dauert sicher nicht lang“. Ich trat ein.
Das schlauchförmige und altertümliche Ladenlokal bot die üblichen Musikerdevotionalien. Eine Handvoll Menschen unterhielt sich, schaute auf Holzblasinstrumente oder blätterten in Notendrucke christlicher Herkunft. In Hör- und Sehweite diskutierte der Inhaber mit einem älteren Kunden über die Vorteile einer 2K-teuren Gitarre. Ich rückte ein Stück näher, um die regionale Verkaufsarithmetik etwas genauer analysieren zu können. Die mir einzig bekannte Melodie zweier dicklicher kostümierter Personen aus Wildeck unterbrach das Gespräch der beiden Diskutanten. Das Mobiltelefon des Kunden spielte eine mäßige 8Bit Melodie. Er nahm ab: „Hallo mein Herzilein.“

Noch vor ein paar Sekunden hatte der potentielle Käufer mit tieffrequentierter Stimmen den Argumenten des Geschäftsinhabers getrotzt, während er nun in seiner Sprache in eine Art telefonischem Niedlichkeitsmodus verfiel. Seine gewählte Stimmlage bewegte sich in einer  ertappten 80-Kilohertzmodulation. „Ja Schatz, ich bin auf dem Weg zum Schuster und bin jetzt im Blumenladen“. Meine Blicke und die des Geschäftsinhabers kreuzten sich. Ich lächelte. In Sekundenbruchteilen verstanden wir die Situation und ich stieß mit deutlicher Stimme hervor: „ Was kosten diese Tulpen hier“? „Zwei Euro fufzisch,“ antwortete er ebenfalls sehr eindringlich. Kurze Stille. Wir schauten den möglichen Gitarrenerwerber an. Schweigsam lauschte er noch eine Moment in sein Mobilgerät und unterbrach die spannungsgeladene Ewigkeit  mit einem: „Ok, dann bis gleich, Haselein“.  Ein zielgerichtete Handdruckbewegung beendete das Gespräch und ein erleichtertes „Danke“ signalisierte die Glaubwürdigkeit unserer atmosphärischen Rettungsaktion. Sein Sprachsystem fand auch erstaunlich schnell wieder in den natürlichen Verhandlungsmodus zurück und als ob nichts gewesen wäre, diskutierten sie auch schon wieder über die Vor- und Nachteile handgeschnitzter Stimmabnehmerkunst hessischer Bauart.
Ich schaute mich noch einen Moment um, verlies mit einem begleitenden Dankesgruß der beiden Waren-gegen-Geld-Tausch-Akteure das Musikaliengeschäft .
Meine bessere Seite war mittlerweile ein paar Schritte voraus gegangen und stand vor einem Schuhladen. Ich holte sie problemlos ein, hakte mich bei ihr unter und lächelte ihr zu. „ Na und, wie war der Laden?“ fragte sie mich. „ Kennst Du Einen, kennst Du alle. Nix besonderes.“ erwiderte ich. Meine Stimme drohte sich leicht anzuheben und ich räusperte mich nochmal kurz um in normaler Stimmlage zu antworten. „Sollen wir Schuhe gucken?“ ergänzte ich. Meine Frau lachte und sprach klar und verständlich: „Ich brauch doch keine neuen Schuhe“. Hach, ich bewunderte sie und ihre glaubhafte Stimmstabilität. Wie sie das immer nur hinbekam.