Die Video-Netz-Welt ist schräg und ein großer kommerzieller Moloch. Ich weiß, dass es zur Moneyfestierung dieser These keine Kolumne braucht. Es reicht völlig, wenn man mit offenen Augen und (Achtung, jetzt kommt‘s!) auch mit offenen Ohren durchs WEHWEHWEH surft, denn der neueste, letzte Internet-Schrei dafür ist „ASMR“. ASM-Was? AH-ES-EM-ER = „Autonomous Sensory Meridian Response“. Auf Deutsch nennt man es „Unabhängige sensorische Meridianreaktion“ und es bedeutet so viel wie „Ein Kribbeln am Kopf, das sich langsam zum Rest des Körpers bewegt, weil man ein schönes zumeist leises, humanes Geräusch gehört hat“. Sachen gibt’s!
Wer nun also denkt, dass jemand, der barfüßig leicht angedippte Schwitz-Chips aus getragenen Socken isst, Pornofilme mit finaler Hochzeit schaut und einen Amiga 500 tatsächlich zur seriösen Musikproduktion genutzt hat, schon seine eigene Aktion-Mensch-Randgruppe gründen dürfte, sollte sich tatsächlich mal eines der meistgeklickten ASMR-Videos anschauen. Ich würde nicht grundsätzlich von einem komplexen Fetisch sprechen, aber es kommt der Sonderbarkeit der feucht-gestrickten Chipstüte aus dem vorherigen Erklär-Satz schon recht nahe.
Wir sehen in ASMR-Videos Menschen, die leise essen, flüstern, pinseln, lecken, brabbeln, zischen, knabbern oder sonst irgendwas in akustischer Form von sich geben, sodass es den humanoiden Empfänger vor dem pixelgebenden Mehr-Zoller in vollkommene Zufriedenheit hüllt.
Echt? Ja in Echt! Die ASMR-ler erlangen dabei ein Kopf und Nacken-Kribbeln, welches dann auch den Rest des Körpers irgendwie erreichen soll. Und das Erstaunliche ist, es gibt bewegende Bildbeweisbeiträge von vielen, wirklich vielen Besuchern, die dieses Erlebnis hatten. Es sind etliche Millionen von Besuchern, um es noch etwas dramatischer zu formulieren, die diese influenzierenden Körperklangerzeuger konsumieren. Schräger geht’s kaum noch.
Noch immer hängt mein Kopf bei der Betrachtung dieser Visuals ungekribbelt zur Seite und mein Gehirn versucht das alles irgendwie in einen logischen und erklärbaren Zusammenhang zu bringen. Ich kannte ja schon ADHS, Tourette und sehr langsames VDSL, aber diese Form der menschlichen Eskalation war mir bisher völlig unbekannt. Essenden Menschen beim Abnagen von Knochen zuzusehen? Flüsternde Lippen, die parallel Haselnüsse knacken? Komische Geräusche, die mich in Ekstase bringen?
Keine Ahnung, warum ich dabei jetzt gerade an Synthesizer denken muss und wie skurril es wohl wäre, wenn zum Beispiel einer der großen japanischen Instrumenten-Hersteller daraus eine völlig neue Synthesizer-Synthese machen würde. „ASMR-Wellenform“ klingt doch vielversprechend. Und die benötigten Samples könnte man praktisch an einem einzigen Tag produzieren. Wenn ich daran denke, was ich so jeden Tag an Körpergeräuschen erzeuge, könnte man sogar eine ganze Bibliothek darauf basieren lassen. Einfach mehrere Nearfieldrecorder in die Taschen und los geht’s. Mein Kopf wippte nach links und ich steppe gedanklich gestört schon durch die ersten Soundbänke meines fiktiven neuen Crossover-Synths: Eating-All-Minor, Ultra-Release-Fart und Stroke-Pet-Pad sowie Scuttle-Ribeye-Strings, Pee-Pee-Flush-Saw und Snoring-Space-Lead könnten doch erstklassige ASMR-Multiprogramme darstellen. Komplette Drumbänke extrahiert aus Gelenkblockaden und Einrenkmanövern vom Chiropraktiker um die Ecke wären möglich. Ein Miniskusflutschen im Knie, der schleifende Senk-Spreiz-Fuß in einem orthopädischen Stützstrumpf oder das Umrühren einer Zahnprothese hätten alle sogar das Zeug zu einem neuen rhythmisch-basierten Musiktrend. Keine Frage, ASMR hat Potenzial, im Besonderen, wenn ich auch noch über optionale Soundset-Erweiterungen sinniere. Dabei dachte ich auch an meinen flohinfizierten Vierbeiner, der fast stündlich neue Geräusche von sich gibt, von denen ich bisher nicht glaubte, dass man sie jemals hätte erzeugen können. Und er braucht dafür nur ein paar frittierte Hasenohren, eine stabile Seitenlage und vorher ein Schälchen Wasser. Mehr nicht.