Der markerschütternde Schrei hallte wieder mal multifrequent und durchdringend durch das gesamte Treppenhaus des Zwölf-Familien-Altbaus im Dortmunder Osten.
Das dadurch entstandene und scheinbar endlos schwimmende Reverb wurde mehrfach von den 60er-Jahre-Flurfliesen gefaltet und mit einem exakten Ping-Pong-Delay zum Ausgangspunkt zurückgeworfen. Selbst die schwerhörige alte Frau aus dem vierten Stock lugte wieder kurz durch ihre mehrfach abgeschlossene Wohnungstür und riskierte einen Blick durch die Geländer-Serpentinen hinunter zur Ausgangsquelle. Kopfschüttelnd wie immer schlug sie die Tür hinter sich zu und fügte damit der scheinbar undefinierbaren Summe noch ein weiteres 100-Hertz-Signal hinzu.
Harald T. blickte derweil zufrieden. Die Ansammlung seiner technischen Geräte, Kabel und Mikrofone leuchtete zwar hell, war aber zwischen den Altkartonagen vor seiner Tür kaum zu erkennen.
Der Postbote, der gerade das Paket des schreisicheren Schuhanbieters bei der 22-jährigen Nachbarin abgeliefert hatte, war ebenso wie die junge Blondine selbst wieder verschwunden. Das vermeintliche Tonsignal aber blieb. Noch etliche Sekunden, ja fast minutenlang warfen sich die in grün gekachelten Wände den Mix aus organischer Ekstase und bewegten Wohnungstür-Elementen zu.
Haralds Geräte arbeiteten auf Hochtouren! Hatten alle Mikros die Anlieferung des Schuhkartons audioakustisch überlebt? Hatten die Limiter ihre Arbeit verrichtet und ein todbringendes Clipping verhindert? War der emotionale Zustand in seiner gesamten Qualität und Modulation auch wirklich von allen Nearfield-Rekordern empfangen worden?
Auch diese Aufnahme schien gelungen und Harald war mehr als zufrieden. Hatte er doch bereits vor zwei Tagen schon einen Ausbruch von unfassbarer Freude und quietschendem Spannungsgrunzen digitalisieren können, als Jennifer ein Paket eines Nobel-Modehauses entgegennahm. Auch die gestrige Anlieferung diverser Modeschmuck-Imitate erzeugte eine Mischung von Speichelflussfrequenzen und feuchthändischen Klatschgeräuschen, die allerdings in Haralds Aufnahmebibliothek bisher nur wenig Beachtung finden konnten.
Harald T. fügte die SD-Karte mit den aktuellen zalandoischen Gefühlsausbrüchen in das Lesegerät seiner Audioworkstation. Nur das Browserfenster mit diversen Bestellvorgängen, Suchergebnissen und Preisangaben verschiedenster femininer Online-Anbieter verhinderte das Anklicken des Audio-Tools, mit dem die Messergebnisse ihre Auswertung erfahren sollten. Ein kurzer Klick auf die Bestätigung der AGBs eines Möbel-Accessoire-Anbieters ermöglichte den Wechsel auf den heimischen Desktop.
Harald T. hielt kurz inne und lauschte einem neuerlichen Ausbruch Glückseligkeit, der es tatsächlich durch zwei geschlossene Wohnungstüren schaffte. Er vernahm die leicht vermischte Ansammlung weinerliche Freude und die monolog-ähnliche Äußerung diverser Superlative. „ Nein Gabi, es ist unglaublich … ich weiß nicht von wem … heute waren es die tollen Boots, die ich schon immer haben wollte … und letzte Woche zwei DG-Shirts … keine Ahnung woher die sind … aber es hört nicht auf … wie geil ist das …“
Harald war sich von Anfang an sicher, alles was er tat, war gewinnbringend und gut investiert. Er überlegte kurz, ob nicht eines seiner Aufnahmegeräte das Telefonat mit Gabi noch aufzeichnete und verwarf den Gedanken mit der Tatsache, dass ihm bereits in 24 Stunden schon wieder exzellentes Material zur Verfügung gestellt werden würde.
Die Tischkerzenhalter hatte er wie immer mit einer 24-Stunden-Lieferung bestellt und er hoffte, dass der Paketbote auch am morgigen Tag zwischen 11 und 12 bei Jennifer klingeln würde. Beinahe hätte er den wichtigen Zusatz „nur direkt beim Empfänger abzugeben“ vergessen, erinnerte sich aber daran, dass er dies in den Stammdaten sämtlicher Lieferanten hatte eintragen können.
Ein kleines Fenster signalisierte zwei eingehende E-Mails. „Vielen Dank für Ihre Bestellung …“, Harald überlas den Rest und archivierte sie routiniert und zielsicher.
Die zweite elektronische Post war von seinem Chef. „Hallo Harald, was macht das neue Effekt-Plug-in, an dem Du gerade programmierst? Ich würde mich freuen, wenn Du mal eine Beta schicken könntest. Ach und unsere Buchhaltung hat mich auf diverse Kostenbelege hingewiesen, die Du eingereicht hast!“
„Wollen Sie die E-Mail wirklich löschen?“, hinterfragte sein Mailprogramm. Einen Mausklick später offerierte bereits die nächste Bestellung den Mengenrabatt für die gesamte Buchausgabe der Twilight-Saga. Natürlich Express-Lieferung, denn ihm fehlte immer noch ein romantisches 20-kHz-Wimmern …