„Ding-Ding-Doooong“, es klingelte unüberhörbar. Dabei hallte der letzte Dong deutlich durch den Dortmunder Altbau und suchte sich damit unaufhaltsam den schmerzenden Weg in den des Gehörganges des Wohnungsbesitzers. Helmut, langzeitarbeitsloser Software-Programmierer öffnete ein Auge, murrte einige Sekunden etwas in Richtung Bettlampe und quälte sich in Zeitlupe aus dem Bett. Noch bevor er ein geeignetes Textil vom Stuhl nehmen konnte, klingelte es ein zweites Mal. „Ich komme ja“, murmelte er vor sich hin und schlurfte ungeachtet der auf den Boden liegenden Hindernisse vom Schlafzimmer in den Flur. Noch bevor er das T-Shirt auf links angezogen hatte, drückte er die Klinke seiner Wohnungstür.
Ein Quietschen zerlegte die letzten Frequenzen der ausklingenden Türklingel. Irgendwas, vielleicht ein Stück Schokolade oder ein zu Stein gewordenes M&M hatte sich unter der Tür verklemmt. Helmut war es egal und er schaute, immer noch leicht verschlafen, in den Hausflur. Der Lärmverursacher hatte das Mehrfamilienhaus bereits schon wieder verlassen und rief durch den zufallenden Spalt der Haustür „Pooost“. Erst jetzt merkte Helmut, dass er bereits mit einem Fuß auf einem dicken Umschlag stand, den der Postbote gerade auf seine Fußmatte abgelegt hatte. Sein Gesicht zeigte eine erste Regung. Er ahnte was dort vor ihm lag und da, wo gerade noch seine Gesichtsmuskeln mit der natürlichen Erdanziehung zu kämpfen hatte, entstand aus einem leichten Mundwinkelhochziehen tatsächlich ein Lächeln. Mit glänzenden Augen drehte er den 1,457 Kg schweren Umschlag und verifizierte das ihm wohlbekannte Verhältnis zwischen Inhalt und Gewicht. Es konnte kein Zufall sein, dass in diesem Moment aus der Nachbarwohnung die ersten Takte von Pharell Williams Happy durch die miserabel isolierten Wände zu hören waren. Helmut pfiff fröhlich vor sich hin und schlenderte im Takt des Megahits ins Wohnzimmer. Sein Blick kreiste. Es war nun nicht mehr aufzuhalten!
Während die Kaffeemaschine seit Wochen erstmalig wieder richtigen Kaffee erzeugte und biologisch ungleichmäßig veränderte Teller ihre erforderliche Spülbecken-Erstbefeuchtung erhielten, entwickelte sich eine humane Dynamik deren Helmut in der Vergangenheit nur allzuselten habhaft geworden war. Gardinen wurden in der Wohnung wieder aufgezogen und sogar der äußerlich stark verstaubte Staubsauger erhielt einen neuen Beutel. Alles war plötzlich in Bewegung. Herumliegende T-Shirts fanden endlich den Weg in die Wäsche, getrennte Sockenpaare wurden nach Monaten wieder zusammengeführt und Sonnenstrahlen warfen Schatten dorthin, wo Spinnentiere in jahrerlanger Arbeit Kunstwerke erschaffen hatten, die noch nie zuvor ein Mensch gesehen hatte. Doch nichts davon war vergleichbar mit dem finalen Akt, der den Abschluss der Postwurfsendung mit sich bringen sollte. Helmut hatte es sich in der Küche gemütlich gemacht und brachte zum Frühstück alle essbaren Elemente aus Kühlschrank, Toastbrotablage und Fruchtaufstrichresten zusammen. Er würde gleich zwei Tassen Kaffee konsumieren und bestimmt nicht, an der längst abgelaufenen Margarine sparen. Eine unendlich haltbare Dose Frühstücksfleisch ergänzte das leicht synthetische Morgenmal und spendete genügend Ballastkonstrast zu den Corn-Flakes, bei denen nicht sicher war ob sie auch schon bei Kauf diesen flauschigen Belag aufweisen konnten. Es knusperte und knirschte und Helmut schien sich langsam zu beeilen. Ein leichtes Verdauungsknurren eröffnete die zielgebende Tatsache, dass er nun langsam den Umschlag von seinem kostbaren Inhalt befreien werden könne. Helmut stand auf und ging durch den Flur in Richtung Badezimmer. Mit einem Griff entledigte er sich seiner Hose und setzte sich leicht seufzend auf die wandgehaltene Grohe Standard-Deluxe. Ein weiteres Magennebengeräusch lies ihn die Sendung öffnen. Das schwarz gefärbte, exakt 516seitige Druckstück glitt Helmut beinahe aus der Hand, aber als Katalogleser erster Stunde wusste er genau, wie das schwere Dokument verkaufbarer Musikdevotionalien gehalten werden muss, um nicht herunterzufallen. Die ersten Seiten glitten von rechts nach links. Helmut war am Ziel. Auch wenn dieses Glücksgefühl nur zwei Mal im Jahr einhalten würde und er noch immer kein Mittel gegen einschlafende Körperteile kannte, das Aufreißen der Folie, die Erstumblätterung und das Einstudieren der wichtigsten Kaufargumente, speziell der Tasteninstrumente, VST-Plugins und der Recording-Hardware, entschädigten für den Aufwand den er jedes mal für dieses besondere Ereignis treiben musste. Er summte noch immer „because i´m happy…“, obwohl es draußen schon längst wieder dunkel geworden war.