Geraten und Verkauft

Die aktuellen Fragen im Leben eines viel-Zeit-habenden-Musikers sind vielfältig: Wann stehe ich auf, wieso liegt hier noch ein Stück Pizza und welchen Synth kaufe ich als nächstes. Die meisten anderen Themen sind dagegen eher klar strukturiert, nachvollziehbar und verfolgen die simple Grundlage zur Erhaltung eines wiederkehrenden Lebensmusters. Problematisch wird es immer dann, wenn unvorhersehbare Abweichungen entstehen und wir den Weg des Gewohnten verlassen müssen.

Das kann der Inhaberwechsel des Italieners um die Ecke sein, der Verlust einer geliebten Yamaha-Gebrauchsanleitung oder ein Verkauft-Hinweis einer Online-Anzeige sein.  Ja, richtig gelesen, letzteres wirft existenzielle Fragen auf. Warum platziert man einen Verkauft-Hinweis, bevorzugt direkt in der Anzeigenüberschrift, wenn dieser Artikel doch nun einen neuen Besitzer gefunden hat? Welche Motivation hindert den Wareanpreisenden die Anzeige herauszunehmen, zu deaktivieren bzw. sie einfach nur zu löschen?
Wenn man auch nur einen Augenblick zu viel über diese Sinnhaftigkeit nachdenkt, steht man am Anfang eines möglichen Fragenkatalogs, dessen Umfang ganze Studienkurse realisieren könnte.
Ist es vielleicht die erste Anzeige eines jungfräulichen Erstverkäufers und möchte er seinen Verkaufserfolg noch eine Weile in der Öffentlichkeit stehen lassen? Benötigt er ein wenig virtuellen Applaus und offeriert die Möglichkeit des direkten Glückwunsches der Kleinanzeigen-Community?
Oder ist es doch ein lesbarer und archivierbarer Nachweis für den heimischen Lebenspartner, um tatsächlich beweisen zu können, dass er sich endlich von einem Teil aus seinem Studioumfeld trennen konnte? Hatte sie dies immer gefordert und er musste nun dem Druck nachkommen? War  es vielleicht auch ein Warnhinweis an alle anderen Hardware-Inhaber, sich nie zu sicher zu fühlen und jederzeit mit dem ultimativen Ausverkauf rechnen zu müssen?
Nur kurz hätte man auch vermuten können, es handele sich um einen ehemaligen Autoverkäufer, dem das Auslegen eines Verkauft-Schildes in die Frontscheibe eines seiner Gebrauchtwagen fehlen könnte. Ein Prozedere, dass bereits schon nach kurzer Zeit der Anwendung zu einer lebenslangen Ersatz-Symbolsucht führen kann.
Bei der nachfolgende Recherche ergab es sich aber, dass der Verkäufer ein nicht vorbestrafter IT-Fachmann aus Darmstadt war, der nie mit dem Verkauf von Autos zu tun hatte, ihn seine Freundin  vor 2 Jahren wegen eines medizinisch-technischen-Angestellten aus Frankfurt verlassen hatte und er sein musikalisches Hobby wegen eines Spreizfinger-Akkord-Syndroms aufgeben musste. Weitere Rückfragen im Freundes und Familienkreises des Verkäufers ergaben zwar noch zusätzliche interessante Details, ergänzten aber keine wesentliche Aspekte zur Gesamtmotivation.
Den Verkauft-Hinweis hatte er noch Online stehen gelassen, da der Käufer, ein 27jähriger KFZ-Mechatroniker aus Wiesbaden erst am Wochenende den Artikel abholen könne und dieser in Bar zahlen würde. Lediglich die Verunsicherung, ob ein Reserviert-Hinweis in der Anzeige den Käufer nicht vielleicht doch vor einer zugesagten Abholung abgehalten hätte, ließen die Entscheidung des Verkäufers ein nachhaltiges und verbindliches Verkauft-Schild zu positionieren, wachsen.
Montags darauf war die Anzeige tatsächlich verschwunden. Die sechssunddreißig ausgedruckten Recherchedokumente konnten ins Altpapier und auf dem Weg zur heimischen Altpapierbox offenbarte der Briefkasten eine neue Speisekarte vom Avanti-Pizzadienst. Die erste Bestellung brachte gleich mehrere Erkenntnisse, denn im direkten Kartonvergleich zwischen Lieferung von Mai und heute ergab sich eine Größendifferenz von 4,4 Millimeter bei gleichzeitiger durchschnittlicher Preiserhöhung von 18cent pro Belag je 100Gramm. Der Vergleichs-Karton befand sich noch im Altpapiercontainer. Recht weit oben, griffbereit, direkt neben der Anleitung für einen MOX6.