Ich weiß was Du letzten Sommer verkauft hast

Auch dem Kolumnisten gelingt es sehr selten, sich von einem ausgedienten Gerät aus dem heimischen Studio zu trennen und preist diese auch nur ungern bei den üblichen „Geld gegen Ware“-Webseiten an. Denn so mancher Verkäufer, so hört man, habe dabei  schon sein musikalisches Hobby aufgegeben, um bloß nicht mehr an die schlimmsten Wochen seines Künstlerdaseins erinnert zu werden. Kaum einer  verkraftete die Folgen der nächtlichen Alpträume vor, nach und während der Angebotszeit, in denen sich immer und immer wieder die Inhalte des Emailverkehrs und das Szenario der Kontaktaufnahmen zwischen Käufer und Verkäufer in abstrakte Horrorvisionen manifestieren.

Viele behaupten, dass ihnen nachts Freddy Krüger als grinsender DPD Kurier an der Haustür begegnete und ihnen direkt am Gehäuse das Strom-Kabel eines Polymoogs durchschnitten hätte, ein bösartiger Servicemitarbeiter die unlösbare Aufgabe stellte, drei defekte Potis in einem komplett verschraubten Korg-MS 20 in einem halben Tag aus- und wieder einzulöten oder man zufällig eine Scooter-Hookline komponiert hätte, um diese der gesamten Familie als nicht-löschbaren Klingel-, SMS- und Whatt`App-Ton aufs Handy zu kopieren. Leider hatte auch ich viel zu spät von den missglückten Versuchen mancher Instrumentenverkäufern erfahren, die kurz nach der Abholung ihres angebotenen Artikels in Ritalin-Abhängigkeit fielen und niemals wieder ein stromgeladenes Gerät einschalten werden würden können. Ich sollte es noch bereuen!

Bereits nach 30 Minuten hatten sich schon 6 Interessenten auf meine Online-Anzeige gemeldet und mich zu den näheren Umständen des zu erwerbenden USB-Master-Keyboards befragt. Drei von Ihnen boten mir ein Zehntel des eingestellten Kaufbetrages und argumentierten mit inflationären Preiseentwicklungen, einer hinterfragte die Möglichkeit meiner persönlichen Lieferung nach Süddeutschland (knappe 350 KM) und die anderen beiden baten mich um exakte Beschreibung der Kopfhörer-Anschlüsse. Da es sich nur um ein reines USB-Masterkeyboard handelte antwortete ich  knapp und sachlich mit gleicher Information. Anfrage 7 und 8 beruhten auf der Grundlage das Gerät in jedem Fall zu nehmen, aber man müsse vorher noch selbst einige eigene Geräte zur Refinanzierung verkaufen. Beide waren sich sicher, noch in diesem Monat vorbei zukommen. Freundlich verwies ich auf die „Wer zuerst kommt Regelung“ und erntete damit die ersten Gewaltandrohungen. Ich löschte meine Mobilfunknummer in der Anzeige.
Kaufinteressent 9 schickte mir eine Liste mit 64 möglichen Tauschobjekten, einige mit Bildern, andere mit Links zu Ebay-Auktionen deren Negativbewertungswahrscheinlichkeiten bei mehr als 99% lagen. Kaufabsichtserklärer Nummer 10 machte eine umfassende vor-Ort-Produktschulung zur Bedingung. Ich erklärte ihm, dass mein Raum für ihn und seine 6-köpfige Crossover-Band nicht groß genug sein würde und lehnte ab.

Nach 4 Tagen, 217 eingegangener Emails und 8 veränderter eigener Identitäten, erzeugte eine außergewöhnliche Anfrage plötzlich mein Erstaunen. „ Hallo, ist das Teil noch zu haben, ich komme aus E. und würde es zum angebotenen Preis gerne kurzfristig abholen. Gruß H.D.“
Ich antwortete misstrauisch ob er alleine kommen würde, hinterfragte noch seinen Musikgeschmack und ob irgendjemand in seiner Familie vorbestraft sei, eine ansteckende Krankheit hätte oder Gitarre spielen würde. Nachdem er alles verneinte, willigte ich ein und gab ihm meinen Namen und die Adresse. Es war ein großer Fehler, ich hätte das Keyboard besser als Regalunterlage für Kabel, Stecker und Anleitungen behalten sollen oder besser das Display heraus gebogen und als Vogelhäuschen längsseits an die Gartentür genagelt.

Die darauf folgenden 347 Minuten an einem sommerlichen Frühlingstag verbrachte ich mit Hans D. aus E., und damit, nicht nur das Objekt in ganzer Ausführlichkeit erklären zu müssen, sondern auch alle anderen Fragen, beginnend mit der Farbe des Kabels und dem unterschiedlichen Anschlag-Klanges der weißen gegenüber der schwarzen Tasten zu erläutern. Das Fehlen des Netzteils mit der Stromversorgung via USB-Power zu beantworten und zu versichern, dass die Sounderzeugung in dunklen Räumen die gleiche Grundlage beheimatet wie in hellen Tageslichtstudios. Auch wenn es dort manchmal etwas düsterer klingen könnte.  Seinen Ansatz die Top 5 der aktuellen Sequenzer-Tools mit religiöser Ausrichtung zu vergleichen, ließ ich unbewertet und schenkte ihm stattdessen noch ein ungenutztes Kabeltestgerät ( ohne Batterie), trug ihm sein neues Gerät zum Auto und
reduzierte den Verkaufspreis nochmalig um  10 Euro. Einhändig, aus dem offenen Fahrerfenster winkend, fuhr er endlich davon.
Ich bekam noch 34 E-Mails mit 89 Fragen von ihm. Nein, einen neuen Router habe ich mir nicht gekauft, das Loch in der Wand ist immer noch da, aber nach nunmehr 2 Monaten sind meine Alpträume schon deutlich weniger geworden. Ich  habe gestern das erste Mal wieder bei einem Bekannten einen Webbrowser geöffnet. Es war eine Seite mit spielenden Kätzchen, nichts mit Musik oder so. Soweit bin ich noch nicht. Noch lange nicht.