Voll der Profi-Keyboarder

“Ach wirklich, Du bist Musiker“? Petra, eine Freundin von Susanne und Klaus, auf deren Geburtstag ich wieder einmal zugegen war, schaute mich ungläubig an. Ihr Freund Malte, ein  Kik-Jeans-tragender Bürokaufmann-Typ, saß neben ihr und schob sogleich die übliche Frage nach. „Was spielst Du denn für ein Instrument“? Natürlich bereute ich schon jetzt die wiederholte Anwesenheit auf einer der Feiern, die unweigerlich dazu führen, unbekannten Personen mein musikalisches Handwerk zu erklären. Gastgeber Susanne und Klaus hatten diese ungewöhnliche Gabe, ihre Gäste im Forum der nervigsten Fragesteller kennen zu lernen und sie dann tatsächlich auch noch einzuladen.


“Ich bin Studiomusiker und benutze Synthesizer“ antwortet ich, ohne eine Ahnung zu haben, welche Konsequenzen dieser Satz noch mit sich bringen würde. „Also ein Keyboarder“ erwiderte Malte zielsicher.  „Naja, nicht so ganz“, war mein erster Gedanke und noch bevor ich ihn überhaupt aussprechen konnte, startete Malte mit Ausführungen seines gesammelten Halbwissens und referierte über eigene (nennen wir sie) musikalischen Erfahrungen.
„Ah Studiomusiker, dann hast Du bestimmt doch einen Computer mit jede Menge Software die die eigentliche Arbeit macht“. Malte grinste leicht und ergänzte stolz, „ Ich mache auch Musik und habe eine Version von Garage-Band und Band in a Box und ein Yamaha PSR-E443 mit 8stimmiger Begleitautomatik und 32 Stimmiger Polyphonie. Die Sounds sind echt Super. Ich habe früher viel mit dem Musikmaker gearbeitet, aber irgendwann wollte ich dann  etwas professioneller werden“.
Langsam aber sicher ahnte ich, welchen Verlauf der weitere Abend nehmen werden würde und konstruierte wieder einmal erste Fluchtstrategien.
“ Dann habe ich mir noch eine Elements besorgt und Acid Studio. Die sind aber nicht so toll, ziemlich kompliziert und meine PSR läuft auch nicht wirklich damit. Hast Du eine Ahnung woran das liegen könnte?“ Ohne wirklich eine Antwort von mir bekommen zu wollen ergänzte er: „ Ich habe einen Kumpel, der mir noch eine andere Version von FL Studio geben will, hab noch eine Alte und die stürzt leider immer ab. Aber eigentlich habe ich sowieso wieder mehr Bock auf echte Instrumente und wollte mir das neue Yamaha PSR-650 kaufen. Was hälst Du von dem Teil“?
“Ach, ein echtes Instrument“ murmelte ich und korrigierte mich deutlich lauter: „Sorry, leider kenne ich das Teil nicht“. „Echt, aber du bist doch Keyboarder“, erwiderte er und schaute mich ungläubig an.
Die Fragen, die mir in diesem Moment durch den Kopf gingen, ließen mich zweifeln. Sollte ich meinem Sitznachbar, dessen Freundin beinahe unbemerkt und den Dialog vorahnend, schon nach der ersten Musik-Frage das Weite gesucht hatte, wirklich erklären, dass ich mich zu selten in den Tischhupen-Abteilungen der Musikgeschäfte aufhalte? Musste ich mich wirklich mit diesem neuzeitlichen Bontempi-Trauma auseinander setzen und in Therapeutischer Seelsorger-Manier einem Klang-Baukasten-Hobbyisten erklären, dass seine Form der 1-Finger-Liedguterstellung nicht viel mit Musikmachen zu tun hatte?
“Warte, ich hab hier eine Demovideo“. Noch bevor ich meine Gedanken sortiert hatte, kramte der Sicherheitskopiensammler nach seinem Handy und durchforstete es. „ Hier, schau mal“. Malte hielt mir sein Full-HD-Display-Smartphone unter die Nase. Auf dem ultralauten Youtube-Video klimperte ein langhaariger Mitsechziger auf dem Traumgerät meines benachbarten General Midi Enthusiasten. Während er linkshändig und scheinbar gleichzeitig, auf 22 verschiedene Funktions-Tasten drückte, feuerte seine rechte Hand ein quitschendes Rock-Solo ab, welches man nur mit einer Super-Slowmotion Kamera (mindestens eine mit120 FPS) im Detail hätte auflösen können.
“Ist das nicht geil“, jubilierte Malte. Ich lächelte gekünstelt und nickte in der Hoffnung, dass er sein Handy gleich wieder verstauen würde. Weit gefehlt, denn meine Reaktion hatte ihn eher noch motiviert, mir weitere Details des Videos und die Absichten seines zukünftigen Erwerbs zu erklären. „Die hat astreine Housebeats und die Synthie-Sounds sind auch der Hammer“. Damit lassen sich wirklich coole Songs produzieren.“

Ungewollt präsentierte mir Malte mit seiner Song-Produktions-Absichtserklärung den Zudreh-Schlüssel der geöffneten Pattern-Pandora. „Ah, Produktion“, antwortete ich „ Hast Du denn schon eigene Songs produziert“? „Öh, tja, ich habe da so ein paar Ideen mal aufgenommen. So richtige Tracks sind das eigentlich noch nicht, aber wenn ich erstmal die richtige Technik zu Hause habe, werde ich vielleicht mal ein Album machen und mir ein cooles Label suchen. Mit den Sachen die aktuell benutze, lässt sich halt nicht richtig arbeiten. Die Programme sind irgendwie doch alle Scheiße“.
Ich beschloss ihm nicht zu widersprechen und beließ ihn in seinem realitätsfremden Mach-ich-dann-Morgen Paralleluniversum. „Wie soll das Album denn dann aussehen“, bohrte ich dennoch nach?
Malte wirkte unsicher. „ Weiß noch nicht genau, irgendwas Schnelles halt und mit fetten Drums und Leadsounds eben. Vielleicht mach ich aber auch ein Ambient-Album. Auf dem PSR ist auch ein klasse Pad-Sound, den könnte man dafür gut benutzen“ Malte schaute  unschlüssig und erkannte so langsam, dass sein fiktives Musikkonzept-Gerüst ins Wanken geriet. „ Ach mal sehen, Musik machen ist ja auch nicht sooo wichtig. Außerdem habe ich mir letzte Woche eine Video-Drohne gekauft, mit der ich und mein Kumpel eigene Videos drehen wollen. Er sagt er hätte einen Freund, der seine Filme schon verkauft hat, zumindest stehen sie wohl schon im Netz. Da hätte ich auch total Bock drauf.“
Mit meinem Gesprächsverschließenden Hinweis, dass ich von dem fliegenden Aufnahme-Zeug überhaupt keine Ahnung habe, wandte sich Malte von mir ab und suchte umherblickend nach seiner Freundin. Mit den Worten „wir sehen uns“ verlies er die Sitzecke und lies mich auf- und ausatmend zurück. Ohne weitere Zeit zu verlieren kramte ich nun mehr selbst nach meinem eigenen Handy: „ Ok Google, nenne mir die 5 uninteressantesten Berufe“. Ich musste schnell sein, denn die nächsten Geburtstagsgäste kamen gerade zur Tür herein und sahen schon den freien Platz neben mir. „Hallo, wir sind Gerd und Sylvia“.