Xenomorphologie

Es war eigentlich ein schöner Morgen. Die Sonne schien, ich hatte heute einen freien Tag und der erste schwarze Kaffee roch nach Urlaub. Meine Gedanken wanderten um diverse sinnlose Tätigkeiten und der Tatsache, den Tag möglichst stressfrei und belanglos gestalten zu wollen. Vielleicht ein paar Patterns basteln, Soundbänke sortieren oder nach Freeware im Internet suchen.  Egal dachte ich, Hauptsache Bewegungsreduziert!  „Sollen wir vielleicht in die City fahren und ein bisschen Shoppen?“ unterbrach mich meine Lebens-Kaufrausch-Abschnittsgefährten.

Die frisch tapezierte, imaginäre Blümchengemusterte-Stressless-Tagesplanung zerbröselte in tausend Midifragmente und ein Nein, wäre natürlich mein direktes Todesurteil noch am Frühstückstisch gewesen. Ich stimmte also lebensbejahend zu und das Grauen nahm seinen Lauf, denn eine halbe Stunde später schlich ich bereits durch Textilbehängte Verkaufspaläste femininer Stoffbekleidungen und studierte Anhängeclips und Verkaufsschilder aktueller SSV-Sommermode. Es hatte ein bisschen etwas vom Lesen von Seifenspenderrückseiten auf fremden Toiletten. Sinnlos, aber es musste irgendwas gemacht werden.
Die seichte räumliche Konstellation aus verkaufsfördernder Musikbeschallung, zielgerichteter Umgebungsparfümierung und der Sound-Melange aus kichernder und murmelnder Frauengrüppchen ergänzte mich in meiner Orientierungslosigkeit. Ich schlenderte wie ein alter Schulrektor auf dem Pausenhof, der in Kürze den Dienst aus Altersgründen beenden würde. Ohne Ziel und jeglicher Lebens-Perspektive.
Derweil war meine geliebte Befehlseinheit irgendwo, wahrscheinlich bereits auf dem Weg in irgendeine Umkleidekabine. Es könne möglicherweise etwas dauern, waren ihre letzten Worte.
Meine Blicke kreisten. Eine Sitzgruppe nahe einer Ansammlung sehr realistisch gestalteter Schaufensterpuppen offerierte sich als maskuline Rettungsinsel.  Dort saßen bereits zwei männliche Tütenträger und ich grüßte mit einer nutzlosen Handbewegung in die Runde als ich mich dazusetzte. „Willkommen in der Hölle“, grummelte ein jüngerer Mann in kurzen Hosen. Sein Kopf hing vorne über und er schien schon seit Stunden die Muster auf dem Ladenlokalteppich zu zählen, während der andere mit geschlossenen Augen den Kopf in den Nacken gelegt hatte. Er reagierte nicht.
Meine Blicke kreisten erneut und ich kramte beiläufig in meiner Tasche und erinnerte mich an eine halbe Tüte Lakritz-Schlangen, die ich vor ein paar Tagen erworben hatte. Gedankenlos schob ich mir eine undefinierbare Menge davon in den Mund realisierte erst etwas später, dass ich am gleichen Tag auch noch ein schwarzes USB-C- Ladekabel gekauft hatte und dieses bereits ausgepackt in derselben Jackentasche auf seine erste Verwendung wartete. Seine intensive fernasiatische  Geschmacksintensität unterschied sich deutlich von den vorherigen Leckereien und meine kauende Bildungsmaßnahme eines schwarzfärbenden Megaklumpens finalisierte sich in einem lauten Knacken eines der beiden USB-C-Stecker. Mein Atem stockte, sämtliche Flüssigkeitsoptionen im Mund aktivierten sich und ich würgte mit einem kieferherunterziehendes Bläääh den unverdauten Rest der speichelvermengten schwarzen Strippenmixtur aus Süßholz und 480mbit Übertragungseinheit zurück in die Herstellertüte. Das Ergebnis erstaunte mich. Es erinnerte an ein Miniatur-Alien-Modell aus dem ersten Sigourney Weaver Film. Aus seiner Seite lugte ein Stück Kabel heraus, dass wie eines der todbringenden Schwanzenden des Außerirdischen aussah und die USB-Steckerreste hatten sich zu einem dieser ausfahrbarenden Zahnschiebemechanismen verformt. Ich schwankte zwischen Bewunderung und Ekel. Einerseits war ich überrascht, wie meine Kaukünste derart Filigrane cineastische Nachbildungen kreieren konnte, anderseits ob mein Magen die Facehuggerlose Vermengung natürlicher und synthetischer Komponenten verarbeiten werden könnte.
Die beiden Sitznachbarn hatten von meiner spektakulären Alienähnlichen Refluxaktion nichts mitbekommen und verharrten immer noch in ihren alltauglichen Lichtjahre-Reisepositionen. Ich steckte die ganzheitlich befeuchtete Plastik zurück in meine rechte Jackentasche und entschied, erst zuhause über die weitere Verwendung des Tüteninhaltes nachzudenken. Zehn Minuten Langeweile später war auch ich bereit in einen 60jährigen Schlaf zu fallen und hatte ganz vergessen, dass sich das ordentlich befeuchtete Xenomorph immer noch gut versteckt in meiner Jacke befand. Wir erreichten die Heimatbasis nach 6 Stunden und mit zu vielen Tüten in den Händen angekommen, bat ich ohne nachzudenken, meine Exekutions-Abschnittsexpertin den Haustürschlüssel aus meiner rechten Tasche zu nehmen. Im Film wäre ich sicher eines schnellen schmerzlosen Tod gestorben. Hier im echten Leben hat es ein wenig länger gedauert.